Urteil

Bestimmt habt ihr vom Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts letzte Woche gehört. Es heißt darin: “Der Arbeitgeber ist nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.” Scheinbar gendern sie die Urteile noch gar nicht. Aber darum soll es in diesem Post gar nicht gehen.

Es geht um die gute, alte Zeiterfassung, das “Stempeln”. In allen größeren Unternehmen, die ich kenne, ist sie Standard. Bei den Kleineren tun es manche und manche nicht.

Ist Stempeln gut oder schlecht?

Die Intention für Zeiterfassung ist klar: Arbeitnehmer:innen vor zu viel Arbeit – und vor allem, unbezahlter Mehrarbeit zu schützen. Und das tut sie in der Regel auch. Dann kann man ja gar nicht dagegen sein. Oder gibt es auch Nachteile?

Ich glaube eine ganze Menge:

  • Aufwand: jedes Stempeln kostet Zeit
  • Stempelungen werden vergessen und dann selbstständig oder bei der Personalabteilung nachgemeldet, was mehr Zeit kostet und Stress erzeugt
  • teilweise laufen Personaler:innen fehlenden Stempelungen sogar hinterher
  • je nach Unternehmen müssen alle Pausen gestempelt werden, also auch Raucherpausen (klar, Fairness) und sogar im Homeoffice der Gang zur Waschmaschine
  • im Arbeitsschutzgesetz stehen max. 10 h Arbeit pro Tag und min. 11 h Ruhe zwischen Arbeitstagen

Ist der letzte Punkt nicht sehr gut für Arbeitnehmer:innen? Meiner Meinung nach war der Punkt früher sehr gut. Als die meisten Menschen körperlich schwere Arbeit zu verrichten hatten – denn das musste man früher in den Fabriken noch viel länger als 10 h. Und übrigens auch, wenn man noch nicht Volljährig war.

Heute haben wir in vielen Bereichen einen Arbeitnehmer:innenmarkt. D.h. Arbeitgeber:innen können sich das Ausbeuten auch ohne Gewerkschaft und Betriebsrat nicht mehr leisten. Mit Wissensarbeit kann ich ohne Probleme mal 12 h an einem Tag arbeiten. Nicht dass das ein Dauerzustand sein soll, aber mit einem kürzeren Folgetag oder sogar einem Ausgleichtag ist das kein Problem. Das ist heute in Deutschland nur Selbstständigen gestattet.

Oder noch verrückter. Ein Unternehmen erlaubt seinen Mitarbeitenden flexibles Arbeiten. Ein Vater arbeitet von 8 Uhr bis 12 Uhr im Homeoffice. Dann holt er seine Kinder von der Kita ab, isst mit ihnen zu Mittag und am Nachmittag wird gespielt und der Haushalt erledigt. Am späten Nachmittag kommt seine Frau nach Hause und er arbeitet im Homeoffice von 18 bis 22 Uhr. Klingt so richtig nach New Work, Flexibilität und Gleichberechtigung? Ist aber in Deutschland leider nicht erlaubt. Er hält die 11 h Ruhe nicht ein.

Meine Meinung

Deshalb hier meine Meinung: In vielen Jobs brauchen wir keinen zeitlichen Schutz der Arbeitnehmer:innen mehr. Wenn die Arbeitsbedingungen auf vertrauensvollem Miteinander beruhen und alle so achtsam sind, dass sich niemand überarbeitet, braucht man keine Zeiterfassung.

Achtung: das heißt nicht „arbeitet alle soviel ihr wollt“. Sondern: Arbeitet an euerm Führungsverhalten, an eurer Arbeitseinteilung und an euerm Miteinander, so dass ihr keine Zeiterfassung braucht!

Und noch etwas: aus eigener Erfahrung kann ich sagen, Burnout korreliert nicht mit der Anzahl an geleisteten Stunden! Die Arbeit und das Arbeitsumfeld provozieren Burnouts. Ich bin schon nach sehr langen Arbeitstagen voller zufriedenstellender Arbeit glücklich nach Hause gekommen. Und nach 6 Stunden mit Burnout-Symptomen. Es ist auch kein Zufall, dass Boreout (von boredom – Langeweile) die gleichen Symptome hat wie Burnout. Ist das relevant? Die häufigste Ursache für Fehltage sind seit vielen Jahren psychische und keine körperlichen Diagnosen.

Was meint ihr? Zeiterfassung ja oder nein? Schreibt in die Kommentare.

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